Samstag, 2. Mai 2009

Kinotipp: "Das Herz von Jenin"

"Meine Rache ist die Menschlichkeit"
Ein Gespräch mit Ismael Khatib, der die Organe seines Sohnes an Israelis spendete und so Frieden mit seinem alten Feind machte

Ismael Khatib, 43, hat im November 2005 seinen Sohn Ahmed verloren. Der Zwölfjährige wurde im Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland bei einer Militäraktion israelischer Soldaten tödlich am Kopf getroffen. Statt Rache zu schwören, entschloss Khatib sich, die Organe seines Sohnes israelischen Kindern zu spenden und so deren Leben zu retten. Einen Moment hielten die alten Feinde inne, Palästinenser wie Israelis nahmen die Geste so begeistert wie verwundert auf. Der deutsche Regisseur Marcus Vetter und der Israeli Leon Geller haben einen Dokumentarfilm über den Fall gedreht und den palästinensischen Vater dabei begleitet, wie er drei der sechs israelischen Kinder besucht, die heute mit Ahmeds Organen leben. "Das Herz von Jenin" läuft am Donnerstag in den Kinos an.

SZ: Am Tag seiner Beerdigung haben Männer in Dschenin den Leichnam Ihres Sohnes Ahmed in die Palästinenserflagge gehüllt, ihn durch die Straßen getragen und gerufen: "Hundert Tote für einen Toten!" Hatten auch Sie Rachegefühle?

Khatib: Ich habe während der Intifada 1987 Steine und Molotow-Cocktails auf israelische Soldaten geworfen. Insgesamt vier Jahre war ich darum in israelischer Haft. Irgendwann habe ich gemerkt: Gewalt bringt nichts, so kommt kein Frieden. Aber natürlich: Da wird ein Kind erschossen, ausgerechnet am ersten Tag nach dem Ramadan, an Eid El Fitr. Es ist ein Festtag für Muslime, ein Tag, um glücklich zu sein. Da haben selbst Nichtmuslime Rachegefühle verspürt.

SZ: Glauben Sie, dass Ihre Geste hilft, dem Frieden näher zu kommen?

Khatib: Ich hoffe es. Die Organspende war für mich größer, als wenn ich als Selbstmordattentäter nach Israel gegangen wäre. Ich bin ein friedliebender Mensch, aber natürlich habe ich Wut verspürt. Meine Rache ist die Menschlichkeit. Die Israelis waren irritiert, sie hatten mit allem gerechnet, nur damit nicht.

SZ: Haben alle in Dschenin das verstanden oder haben einige auch gesagt: Du bist verrückt, du hilfst dem Feind?

Khatib: Direkt zu mir gekommen ist keiner, aber es gab Verwunderung - und Respekt für meine Entscheidung. Ahmed hat dabei etwas bewirkt: Er ist das letzte Kind, das in Dschenin getötet wurde.

SZ: Wurden Sie gefragt, wer die Organe Ihres Sohnes bekommen soll?

Khatib: Nein. Aber Ahmed lag in einer Klinik in Haifa, also in Israel. Es war mir klar, dass die Organe vermutlich an Israelis gehen. Mir war aber wichtiger, dass vor allem Kinder die Organe bekommen - egal, ob Juden, Araber oder Christen. In ihnen lebt Ahmed weiter. Mein Bruder ist gestorben, weil er keine Niere bekam. Darum hatte ich mich längst entschieden, meine Organe zu spenden. Um aber zu entscheiden, ob Ahmeds Organe gespendet werden dürfen - auch an Israelis -, dafür brauchte ich einige Stunden Bedenkzeit. Ich musste meine Frau fragen, den Imam von Dschenin, den Chef der Al-Aksa-Brigaden. Alle sagten: Es ist kein Problem.

SZ: Haben alle Organempfänger gewusst, dass es Ihr Sohn ist?

Khatib: Nein, das wussten sie nicht.

SZ: Yaakov Levinson, ein orthodoxer Jude und der Vater von Menuha, die eine von Ahmeds Nieren erhielt, sagte bei einem Interview vor der Transplantation, er würde es bevorzugen, wenn das Organ von einem Juden käme. Da wusste er aber noch nicht, von wem die Niere stammt.

Khatib: Das hat mich verletzt, aber auch nicht erstaunt, er ist aufgewachsen in seiner Welt, die nicht zur Toleranz erzieht und nur die eigene Kultur zulässt.

SZ: Die letzte Station Ihrer Reise zu den Kindern führte Sie zu den Levinsons. Auf dem Weg dahin sagten Sie: "Dem Typen aus Jerusalem sag ich die Meinung." Als Sie schließlich bei ihm auf dem Sofa saßen, haben Sie es nicht getan. Warum?

Khatib: Yaakov Levinson hatte Angst, ich glaube, er hat noch nie einen Palästinenser, also seinen Feind, in sein Haus gelassen. Alles, was er sagen wollte, war auf Levinsons Gesicht, in seinem distanzierten Verhalten. Er hat mich gefragt, warum ich nicht in die Türkei gehe, um zu arbeiten. Er hat gar nicht verstanden, dass das hier auch meine Heimat ist. Ich glaube nicht, dass er sich ändern wird. Aber es ging mir nicht um den Vater, sondern allein um Menuha. In ihr sehe ich Ahmed.

SZ: Zum Abschied sagte Yaakov Levinson: "Ich hoffe, dass wir uns wiedersehen." Gab es weitere Treffen?

Khatib: Nein. Aber über einen Onkel von mir weiß ich, wie es Menuha geht. Er hat Kontakt zu dem Krankenhaus, in dem sie behandelt wird. Auch Herr Levinson soll nach uns gefragt haben. Samah, ein Drusenmädchen, in dem das Herz von Ahmed schlägt, sehe ich regelmäßig, und Mohammed, einen arabischen Israeli aus der Negev-Wüste, der mit einer seiner Nieren lebt. Nicht alle wünschen den Kontakt, das ist in Ordnung, ich habe es ja nicht getan, um Dankbarkeit einzufordern.

SZ: Ihre Frau und Sie haben noch zwei Mädchen und zwei ältere Söhne. Werden die irgendwann zu den Waffen greifen?

Khatib: Meine Söhne studieren in Norwegen, Musik und Ingenieurwesen, sie sind nicht in der Armee. Sie wissen, dass ich im Widerstand war und warum ich es heute nicht mehr bin. Sie helfen mir, meine Friedensbotschaft bekannt zu machen. Auch in Dschenin habe ich etwas bewirkt, viele Israelis besuchen mich.

SZ: Nicht viele Israelis wagen sich in die palästinensischen Autonomiegebiete.

Khatib: Einige machen das trotzdem. Alle denken immer, dass wir Palästinenser Terroristen sind. Dschenin war immer die Stadt, aus der die Selbstmordattentäter stammen. Sie war ein Symbol für Rache. Die Besucher berichten in Israel, was sie hier sehen. Das hat auch das Bild von uns geändert. Eine Israelin hat mich besucht und auf dem Rückweg wurde sie von einem israelischen Soldaten am Checkpoint gefragt: Sind Sie verrückt, was machen Sie in Dschenin? Sie fragte zurück: Was machen Sie an dieser unsinnigen Mauer? Da hat er nichts mehr gesagt.

SZ: Es gab aber auch palästinensische Anschläge auf israelische Schulbusse.

Khatib: Kinder müssen raus aus dem Spiel, in dem sie benutzt werden - von beiden Seiten. Ein Kind weiß noch nicht, welche Religion es hat oder welcher Partei es folgen muss, es ist ohne Schuld. Wir sind geboren in einem besetzten Land, und unsere Kinder kennen nichts anderes. Deshalb sind Plastikwaffen oft auch ihre Spielzeuge. Auch an dem Tag, als Ahmed erschossen wurde, hatten sie eine Spielzeugwaffe dabei. Die Soldaten hielten sie angeblich für eine Kalaschnikow und haben sofort das Feuer eröffnet.

SZ: Haben Sie versucht, den Soldaten zu finden, der Ihren Sohn getötet hat?

Khatib: Nein, das habe ich nicht. Es spielt doch keine Rolle. Ahmed ist tot. Der Soldat hat im Rahmen einer Militäraktion seine Befehle ausgeführt. Die erste Kugel traf Ahmed am Bein, die zweite am Kopf. Warum hat der Soldat es nicht bei dem ersten Schuss belassen?

SZ: Der damalige israelische Ministerpräsident Ariel Scharon hat Ihnen öffentlich mehrmals gedankt. Letztendlich war er zu der Zeit verantwortlich für die Razzia, bei der Ahmed gestorben ist.

Khatib: Das Telefon hörte nicht mehr auf zu klingeln: "Scharon möchte dringend mit dir sprechen" hieß es, "Olmert möchte mit dir sprechen". Ein Vertreter des Verteidigungsministeriums hat sich wortreich bei mir entschuldigt. Vor Ahmed sind viele Kinder getötet worden, keiner hat sich entschuldigt. Die Berichte über uns haben großen Druck erzeugt.

SZ: Dschenin soll das Vorbild für ein friedliches, unabhängiges Palästina werden. Kann das funktionieren?

Khatib: Dschenin ist eine friedlichere Stadt geworden, zuvor galt sie als fünftgefährlichste Stadt der Welt. Es bewegt sich etwas, und das hat mit den Leuten zu tun. Früher habe ich als Automechaniker gearbeitet, seit zwei Jahren leite ich ein Jugendzentrum in Dschenin. Im ersten Jahr kamen 200 Kinder zu uns, im zweiten 400. Die Kinder sind so weg von der Straße. Und wir wollen das alte Kino wieder aufmachen. Das war eine Idee, die dem Regisseur Marcus Vetter und mir gekommen ist, als wir den verfallenen Bau gesehen haben. Wir sammeln für unser Projekt Cinema Jenin und wollen das Kino 2010 eröffnen. Es soll ein Treffpunkt für Menschen unterschiedlichster Nationalitäten werden. Vielleicht können wir danach einen Spielplatz bauen oder einen Park.

SZ: Hätten Sie der Organspende auch noch nach dem jüngsten Gazakrieg zugestimmt? Menschenrechtler prangern willkürliche Tötungen von Zivilisten durch israelische Soldaten in Gaza an.

Khatib: Ich muss ein wenig überlegen, aber nein, es macht für mich keinen Unterschied. Es ist ja keine Spende an die Regierung, sondern an die Kinder. Neben mir im Krankenhaus haben Juden die Thora gelesen und wir den Koran. Wir haben alle an den Betten unserer Kinder gesessen und gewartet, dass sie ihre Augen aufmachen. Man fühlt, dass es gar nicht so schwer ist, Frieden zu machen.

(SZ, 2. Mai 2009)

Siehe auch http://www.hagalil.com/01/de/Israel.php?itemid=2601