Montag, 29. Juni 2009

Mein Heim im Land meines Feindes

Amerika darf nicht mehr akzeptieren, dass Israel seinen Gründermythos auf die Siedlungen in den besetzten Gebieten überträgt

Ich bin alt genug, um mich an die Zeit zu erinnern, als israelische Kibbuzim noch wie Siedlungen aussahen. In den frühen Sechzigern verbrachte ich einige Zeit im Kibbuz Hakuk, einer kleinen Gemeinde, die von der jüdischen Miliz 1945 vor der Staatsgründung gegründet worden war. Kibbuz Hakuk wirkte immer noch ziemlich unfertig, als ich 18 Jahre später dort war. Die paar Dutzend Familien, die dort lebten, hatten sich eine Gemeinschaftsküche, einen Kindergarten, Scheunen und Häuser gebaut. Doch gleich dahinter erstreckten sich felsige Hügel und halbgerodete Felder. Die Kibbuzbewohner trugen noch ihre typischen blaue Arbeitshemden, Khakihosen und dreieckige Kappen: So kultivierten sie Bild und Haltung der Pioniere, was schon damals im Widerspruch zur hektischen, urbanen Atmosphäre von Tel Aviv stand. Hier ist das wahre Israel, schienen sie den hoffnungsfrohen Besuchern und Freiwilligen zuzurufen, kommt und helft uns, die Steine wegzuräumen und Bananen anzupflanzen - und sagt euren Freunden in Europa und Amerika, sie sollen sich euch anschließen.


Die Aussicht ist wohl einzigartig: Von der Siedlung Herodion in der Nähe von Bethlehem blickt ein religiöser Siedler, bewaffnet mit einemM-16-Sturmgewehr, über die Judäische Wüste. Foto: David Silverman/Getty

Hakuk gibt es immer noch. Heute lebt es von einer Plastikfabrik und den Touristen, die zum nahegelegenen See Genezareth strömen. Die ursprüngliche Wehrsiedlung wurde in eine Touristenattraktion verwandelt. Von diesem Kibbuz als einer "Siedlung" zu sprechen, wäre bizarr. Doch Israel braucht "Siedlungen". Sie sind notwendig, um das Image für ausländische Bewunderer und Geldgeber aufrechtzuerhalten: das eines kleinen Landes, das sich durch die harte Arbeit der Urbarmachung, durch legitime Selbstverteidigung und den Bau von Siedlungen in einer feindlichen Umgebung mühsam den Platz erkämpft, der ihm zusteht. Aber eine solche neo-kollektivistische Grenzland-Erzählung klingt im modernen, hochtechnisierten Israel unaufrichtig. Deshalb wurde der Gründermythos übertragen - auf die palästinensischen Gebiete, die im Krieg von 1967 erobert und seither illegal besetzt wurden.

Die internationalen Medien werden nicht zufällig dazu ermutigt, über jüdische "Siedlungen" und "Siedler" im Westjordanland zu berichten. Doch das Bild trügt. Die größte der umstrittenen Siedlungen ist Maale Adumim: 35 000 Menschen leben hier, so viele wie im englischen Winchester. Doch nicht die Zahl der Bewohner von Maale Adumim ist bemerkenswert, sondern die Fläche, die es einnimmt. Diese "Siedlung" erstreckt sich über 50 Quadratkilometer . Maale Adumim ist damit dreimal so groß wie Genf . Was für eine "Siedlung".

Es gibt 120 offizielle israelische Siedlungen in den besetzten Gebieten, außerdem "inoffizielle" Siedlungen, deren Anzahl auf 80 bis 100 geschätzt wird. Nach internationalem Recht besteht zwischen ihnen kein Unterschied: Beide Formen widersprechen Artikel 47 der Vierten Genfer Konvention, die ausdrücklich verbietet, Land zu annektieren, das mit Gewalt eingenommen wurde. Es gibt keinen Unterschied zwischen "autorisierten" und "nicht autorisierten" Siedlungen, wie in israelischen Verlautbarungen oft behauptet wird: Alle Siedlungen sind illegal, egal, ob sie offiziell anerkannt wurden, ob sie expandieren oder nicht.

Doch dürfen wir über den unverhohlenen Zynismus der jetzigen israelischen Regierung nicht vergessen, dass auch ihre vermeintlich respektableren Vorgänger für die heutigen Verhältnisse verantwortlich sind. In den letzten zwanzig Jahren ist die Zahl der Siedler konstant um jährlich fünf Prozent gewachsen, fast viermal so schnell wie die israelische Bevölkerung insgesamt. Zusammen mit der jüdischen Bevölkerung Ost-Jerusalems (das ebenfalls illegal annektiert wurde) stellen die Siedler inzwischen eine halbe Million Menschen: mehr als zehn Prozent der jüdischen Bevölkerung im sogenannten "Großisrael". Ihnen wird bei den Wahlen großes Gewicht zugeschrieben, weil das anteilige Wahlsystem selbst dem kleinsten Wahlkreis übermäßigen politischen Einfluss verschafft. Um ihren Einfluss richtig einzuschätzen, muss man wissen, dass die Siedler - obwohl sie über ein Archipel von Ortschaften verstreut sind und durch 600 Checkpoints und Straßensperren vor den Arabern geschützt werden - einen homogenen demographischen Block bilden. Die Zahl illegaler Siedler im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und auf dem Golan übersteigt die von Tel Aviv um fast ein Drittel. Fürwahr erstaunliche "Siedlungen".

Wenn Israel sich an Siedlungen berauscht, waren die USA lange ihr Spirituosenhändler. Hätte Washington von 2003 bis 2007 nicht jährlich 2,8 Milliarden Dollar - 2013 sollen es 3,1 Milliarden werden - zur Verfügung gestellt, wären die Häuser im Westjordanland nicht so billig, nämlich nur halb so teuer wie Häuser im israelischen Kernland. Viele, die dort hinziehen, betrachten sich denn auch nicht als "Siedler". Gerade aus Russland oder anderen Staaten eingewandert, nehmen sie die staatlich geförderte Unterkunft dankbar an, ziehen in die besetzten Gebiete und werden - wie die Bauern, die in Süditalien an Straßen und Strom angeschlossen wurden - dankbare Diener ihrer politischen Herren.

Niemand glaubt wirklich, dass die "Siedlungen" mit ihren 500000 Einwohnern, ihrer städtischen Infrastruktur und ihrem privilegierten Zugang zu Land und Wasser je wieder aufgegeben werden. Die Regierenden gleich welcher politischer Coleur haben nicht die Absicht, die Siedlungen zu schleifen; und weder Palästinenser noch informierte Amerikaner machen sich darüber Illusionen. Trotzdem behaupten fast alle gern das Gegenteil - sie verweisen auf die sogenannte "Roadmap", den Friedensplan von 2003, und behaupten, sich auf die Grenzen von 1967 geeinigt zu haben. Diese vorgebliche Vergesslichkeit ist das Schmiermittel im diplomatischen Austausch. Doch manchmal führt politische Heuchelei in den Untergang - so wie hier. Weil die Siedlungen nie dem Erdboden gleichgemacht werden, aber fast alle so tun als ob, wurde lange die Folgen dieser "facts on the ground" ignoriert.

Niemand weiß das besser als Benjamin Netanjahu. Am 14. Juni hielt der Premierminister eine mit Spannung erwartete Rede, in der er kunstvoll Rauch in die Augen seiner amerikanischen Gesprächspartner blies. Während er anbot, die hypothetische Existenz eines Palästinenserstaates anzuerkennen - unter den Bedingungen, dass dieser keine Macht über seinen eigenen Luftraum besitzt und keine Mittel, sich gegen Angriffe zu verteidigen - wiederholte Netanjahu die einzige Forderung, auf die es ihm wirklich ankam: Wir werden keine illegalen Siedlungen errichten, aber behalten uns das Recht vor, "legale" Siedlungen ihrem natürlichen Wachstum entsprechend auszubauen. Die Rückversicherungen, die Netanjahu den Siedlern und ihrer politischen Wählerschaft machte, wurden so enthusiastisch aufgenommen wie immer, obwohl sie in Klischees verpackt waren, die sich vor allem an die nervöse amerikanische Presse richteten. Die New York Times schluckte den Köder wie vorgesehen und titelte: "Netanyahu unterstützt Palästinenserstaat mit Vorbehalten."

Doch wird Obama mitziehen? Natürlich will er - nichts würde dem amerikanischen Präsidenten und seinen Beratern besser ins Konzept passen als ein Benjamin Netanjahu, der nach Obamas Rede am 4. Juni in Kairo die Fronten wechselt und auf einmal zu Kompromissen bereit ist. Die amerikanische Regierung könnte Konflikte mit ihrem nächsten Verbündeten fürs Erste verhindern. In Wirklichkeit aber hat der israelische Premierminister die hässliche Wahrheit ausgesprochen: Wir haben nicht die Absicht, uns in Bezug auf die Landnahme von "Judäa und Samaria" den internationalen Gesetzen oder Meinungen zu beugen. Der amerikanische Präsident muss sich entscheiden. Er kann mitspielen, könnte sich so die Zuneigung des Kongresses erkaufen - und Zeit. Er könnte aber genauso gut zwanzig Jahre amerikanischer Zugeständnisse über Bord werfen, öffentlich zugeben, dass der Kaiser nackt dasteht, den Zyniker Netanyahu fallenlassen und die Israelis endlich daran erinnern, dass ihre Siedlungspolitik ohne amerikanische Unterstützung undenkbar gewesen wäre. Obama sollte die Israelis daran erinnern, dass ihre sogenannten Siedlungen weder der Verteidigung Israels dienen noch den Gründungsidealen gerecht werden, sondern nichts sind als kolonialistische Invasionsversuche.

Wenn die Siedlungen nicht geräumt werden, wäre ein Amerika, das so tut, als ob die Nicht-Expansion angeblich "autorisierter" Siedlungen einen echter Friedensbeitrag darstellt, eine Katastrophe. Niemand im Nahen Osten glaubt derlei Märchen. Israels politische Elite könnte unverdient aufatmen. Die Vereinigten Staaten hätten sich vor ihren Verbündeten erniedrigt, von ihren Feinden gar nicht zu sprechen. Wenn Amerika seine Interessen in Israel nicht durchsetzen kann, soll es sich wenigstens nicht wieder zum Narren halten lassen. Oder, wie George Bush einmal zu sagen versuchte: "Fool me once, shame on you; fool me twice, shame on me."

Der Autor ist Direktor des Remarque Institute der New Yorker Universität. Unter anderen verfasste er "Reappraisals: Reflections on the Forgotten Twentieth Century" (2008).

(aus: SZ, Juni 2009)